Adolf Moritz Steinschneider Archiv

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Brief vom 10. – 15. August 1940 an Friederike Kätzler über die Flucht vor den deutschen Truppen in den Süden Frankreichs

Nachdem Frankreich am 3. September 1939 dem Deutschen Reich den Krieg erklärt hatte, wurde A.M. Steinschneider wie tausende von Emigranten aus Sicherheitsgründen in verschiedenen Lagern interniert. Steinschneider befand sich zunächst in einem Lager bei Villerbon bei Blois (Loire), später in Montmorillon und in Montluçon.

Als Frankreich von deutschen Truppen überrollt wird, beginnt die panikartige Flucht von Militärs und Zivilbevölkerung in den Süden Frankreichs. Der nachstehende Brief berichtet ausführlich von Steinschneiders Flucht und Rettung.

Die Adressatin des Briefes, Frieda Kätzler (genannt Pütt) lebte mit dem gemeinsamen Sohn Stefan (genannt Abbi) in der Schweiz. Eva Reichwein war Steinschneider im April 1938 zusammen mit der Tochter Marie-Louise (genannt Musch) ins Pariser Exil gefolgt; die beiden konnten auf anderen Wegen in den Süden Frankreichs fliehen. Das Städtchen Bellac, aus dem Steinschneider den Brief geschrieben hat, sollte für die kommenden 4 Jahre der Zufluchtsort der Familie werden.

 

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Bellac, 10-15/8/40

Pütt,

... Jetzt will ich Dir und Äbbchen mal etwas über die "interessanten" Erlebnisse berichten, die ihn eifersüchtig machen. Natürlich, ich kann das schon verstehen. Was mich selbst betrifft, Mensch mit unbegreiflichem gutem Stern, so bin ich durch alle Schrecknisse hindurch gegangen, besser gefahren,sicher wie ein Traumwandler, unbeschwert, unverletzt, fast ohne körperliche Anstrengung, ruhig, unbelästigt, habe nie eine mitrailleuse oder eine Bombe gesehen oder auch nur gehört. Was dagegen Eva u. Musch anbe­langt, so dürfte die Bombe, die 50 bis 100 m entfernt von ihnen auf der Chaussee ein­schlug, eine wenig beneidenswerte Erinnerung sein. Musch fing schon auf dem Rad zu weinen an (wie mir Eva später erzählte) sprang dann ab, Eva blieb ruhig, beide sind dann unverletzt durchgekommen. Als ich sie traf, sahen sie bejammernswert, schmal, dünn, krank u. herunter aus. Und das kam nicht vom Nahrungsmangel. Augenblicklich sind sie wieder einmal eingesperrt, Eva hatte, als ich wegging, bzw. weggehen mußte, laufend Herzschwäche und ich bin ziemlich in Sorge um sie. Also nun die große Flucht, die mich in 5 Tagen von Montluçon bis in die Pyrenäen führte.

 

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Als Junge habe ich öfter einen Angsttraum gehabt: Daß ganz Europa von der Nord- und Ostsee her durch eine ungeheure Sturzwelle überflutet werde, die erst an den Alpen, bzw. einem Gebirgszuge halt machte u. alles fortschwemmte. Sie war turmhoch, und man konnte sich nicht[später eingefügt] retten. (Du siehst, daß ich soeben das "nicht" vergessen habe. Also gelang es mir wohl auch im Traum gewöhnlich, mich zu retten). Wenn man von Vorahnungen sprechen will - jedenfalls kehrten Traum und Vorstellung oft wieder, und so ähnlich war es eigentlich auch. Die Wirklichkeit war so: Es war am 18/6 abends. Gearbeitet wurde schon nicht mehr. Seit 3 Tagen zogen unten auf der Chaussee ganze Karawanen vorbei. Zeitweise war sie von Autos aller Art verstopft. Dann kamen wieder Truppen, Trains, Rote Kreuzkolonnen, Autos mit ganzen Haushalten obendrauf gepackt, Matratzen, Kinderwagen, Spielzeug, innen Menschen mit verstörten oder vor Müdigkeit gänzlich ausdruckslosen Gesichtern. Kinder, die auf Kissen lagen u. schliefen. In endlosen Ketten hielten sie stundenlang geduldig an der Tankstelle. Camions (also große Lastautos), gefüllt mit Frauen u. Kindern, Säuglingen, unvorstellbar, eine moderne Völkerwanderung, dann wieder Truppen, motorisierte Einheiten aller Art. Erst kamen sie aus Holland, aus Belgien, dann aus Lille, manchmal sah man im Anfang elegante Wagen, die in entgegengesetzter Richtung fuhren. Die kamen aus Nizza, Mentone, von der Riviera. Dann aber kamen sie aus Paris, und die Flut stieg u. stieg u. stieg. Dann kamen sie plötzlich von Orléans, 200 km, dann von Moulins, 100 km vor M. Sie kamen aus dem Elsaß. Von allen Seiten, wie es schien. Den ganzen Nachm[ittag] schwirrten Gerüchte herum. Sie sind schon in Moulin. Leute von uns, die aus N. kamen, seien be­schossen u. angehalten worden. Blois werde bombardiert, sie kämen von Norden her Richtung Lyon, aber auch vom Osten her Richtung Bordeaux. Sie seien noch 60 oder 20 km vor M. Was sind schon 60 oder 20 km für ein Auto, oder gar für ein Flugzeug. Und immer noch keine Ordre zum Abmarsch, obgleich die 6te fix und fertig u. abmarschbereit in den Baracken lag. Am Abend vorher waren schon einige besonders bedrohte abgehauen. Ohne Ordre. Es ging ja schon ums [Leben] schließlich. Der Capit[aine] sagte auch nichts. Am Tage hielt er einige Leute an, die fort woll­ten, sie gingen dann aber doch quer durch die Felder einfach ab. Am Abend hieß es, eine motorisierte Patrouille nähere sich M. Inzwischen hatten sich die Einwohner von M[ontluçon]. selbst in Bewegung gesetzt. Die ganze Stadt. Und war die Garnison eigentlich noch da?

 

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Und der Stab? Wollte man uns wieder als die letzten lassen, wie es auch in N. geschehen war (und vielfach anderwärts übrigens!). Immer wieder überzeugten wir uns, ob in der Kaserne oben noch Licht brannte. Abends 20 Uhr schien mir weiteres zuwarten nicht mehr opportun. Es war sehr dunkel. Wieder gingen 10 ab. Einer lag ohnmächtig da. Seine Frau war angekommen, um ihn zu begleiten. Jetzt sei sie von Gendarmen verhaftet. Jedenfalls konnte er sie nicht finden. Der Cpt. bemühte sich um ihn. Die Frau sei ja schon wieder frei gelassen, und er könne mit ihr gehen, sofort. Also nahm ich meinen Packen und ging auch. In einem Sack hatte ich den ganzen Rest meiner Habseligkeiten. Aber er war doch recht schwer. Überflüssige Uniform ließ ich zurück. Unten auf der Chaussee war es dunkel. Da irrte die Frau umher, die wiederum verzweifelt auf den Mann wartete. Ich gab ihr Bescheid. Die 10 marschierten vor mir im Sturmschritt. Ich konnte sie nicht einholen, ließ sie laufen. Die Chaussee war jetzt ziemlich leer. Also waren schon alle fort, und ich ging zwischen den beiden Wellen, der flüchtenden und der heranstürzenden. Oft standen Autos da. Drin schliefen Menschen. Oder sie hat­ten keine Essenz mehr. Ich sah welche, die lagen im Chausseegraben, von den eingeschlafenen Führern hineingesteuert. Teilweise die Räder nach oben. Einer aus­gebrannt. Wo waren die Insassen hin? Da stand ein Riesencamion mit Remorque (Anhänger). Weinende Frauen, schreiende Kinder, streitende Männer rings herum. Der Chauffeur verweigerte die Weiterfahrt. Wollte er Nachzahlung? Hatte er keine Essenz, war der Wagen kaputt. Es schien, daß er ohne Beleuchtung war. Ich stellte mich lange dazu, in der Hoffnung, daß sie vielleicht doch weiterfahren würden und ich aufsteigen könnte. Aber sie entschlossen sich schließlich zu bleiben und gingen in den Bauernhof der dort stand. Ich schlich weiter, der Sack drückte, der Mond ging auf. Ich ging auf der Chaussee durch weites freies Feld. Jetzt sah ich an den Straßen­rändern, in den Gräben, auf den Feldern unzählige Menschen, die dort lagen. Es sah aus, wie Leichen. Aber es waren Menschen, die wie ich, zu Fuß geflüchtet waren und nicht mehr weiter konnten. Sie waren einfach zusammengesackt und so lagen sie dort u[nd] schliefen, oder saßen dort und sahen einen apathisch an, gleichgültig gegen alles, was noch folgen würde.

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Hin und wieder überholte mich jemand, oder überholte ich jemanden. Es war Vollmond, und es war ganz windstill, sehr unheimlich. Es mochte gegen Mitternacht sein. Wie weit war ich eigentlich schon gelaufen? 3, 4, 5 km? Jetzt gingen vor mir 3 Soldaten. Sie gingen ganz langsam nebeneinander im Gleichschritt. Verwundet waren sie nicht. Aber sie trugen auch keine Waffen bei sich. Wahrscheinlich waren sie schon seit Tagen hundert km so gelaufen. Mit denen konnte ich Schritt halten. Das war gut. Ich ging im Gleichschritt hinter ihnen her. Keiner drehte sich um, keiner sprach ein Wort. Wir gingen vielleicht eine Stunde. Vor ihnen ging jetzt noch ein Zivilist. Plötzlich sagte der eine, er wolle trinken. Der andere zog seine Feldflasche und fragte, ob einer ein Quart habe. (Das ist eine Art Trinkbecher aus Metall). Alles schwieg. Darauf sagte ich laut, aber wie im Schlaf: "Ich habe ein Quart." Alle 4 drehten sich nach mir um. Dann nahmen sie das Quart und der mit der Feldflasche verteilte den restlichen Wein unter uns 5. Jeder bekam genau 1/5. Alle tranken, keiner sprach. Ich ging wei­ter, wieder allein. Ich dachte, wo sind eigentlich Fite und Äbbchen, wo sind Eva und Musch, leben sie noch? (Von Eva hatte ich seit 2 Wochen keinerlei Nachricht mehr). Lebe ich selbst noch, oder ist das alles nur eine schaurige traumhafte Vision? Ich weiß nicht mehr genau, was dann war. Es war lediglich ein Zufall, daß diese Straße in dieser Nacht nicht beschossen wurde. Die Compagnie, die 12 Stunden später hier lang marschierte, wurde heftig mitrailliert. Ich weiß noch, daß ich dann mit Soldaten auf einer Höhe stand, über die die Chaussee hinwegführte, und daß einer sagte, hier muß man aufsteigen, denn hier fahren sie am langsamsten. Daran hatte ich gar nicht gedacht, daß man auf ein fahrendes Auto ja nur sehr schwer aufsteigen kann, auch daß keines anhalten würde, das jetzt noch käme. Man wartete. Wirklich kamen jetzt ein paar Riesendinger heraufgekeucht. Kriegsmaterial drin und voller Soldaten. Die Wartenden versuchten von hinten heraufzuspringen, bevor der Motor wieder an­sprang, wurden aber von den drin gehäuft stehenden rücksichtslos zurückgestoßen: "Hier ist kein Platz mehr!" Es war wie der Kampf um die Plätze in den Rettungsbooten eines untergehenden Schiffes. Ich stand teilnahmslos dabei, konnte mit meinem schweren Sack ja weder laufen, noch springen. In diesem Augenblick kam als Nachzügler ein Riesencamion langsam, dicht an mir vorbei, und auf dem breiten Schutzblech und Trittbrett der Remorque,

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des Anhängers, saß ausnahmsweise niemand. Mit letzter Kraft schwang ich den Sack hinauf, sprang auf und war gerettet! 2 Sekunden darauf springt der Motor wieder an und der Riesenwagen saust abwärts. Ich installierte mich, so gut ich vermochte, auf dem schmalen, schwankenden Platz, auf dem man stehen konnte, gegen den Motor gelehnt, und sich an dem Türgriff des Führerhäuschens haltend (dieser Anhänger war nämlich selbst ein Auto, das vom vorderen ins Schlepptau genommen worden war), oder, wenn man sich zwischen das gewölbte Schutzblech und die Motorhaube gut einklemmte, zur Not auch sitzen. Und so blieb ich denn auch sitzen 36 Stunden lang! Erst später, als ich die Erzählungen der anderen hörte, habe ich gemerkt, welch ungeheures Glück ich gehabt habe. Da waren Menschen, die hunderte von km gelaufen waren, beschossen worden waren, keine Schuhe mehr an den Füßen oder wundgelaufene Füße hatten, die krank und halb verhungert waren, nicht zu reden von den Verwundeten (Civilisten!) und denen, die mit dem Leben nicht davon ge­kommen sind. Daß überhaupt noch ein Wagen kam, daß ein Platz frei war, daß ich aufspringen konnte, daß dieser Wagen für einige 100 km Essenz hatte, und daß der Weg, den er nahm, nirgends beschossen wurde, wenigstens nicht in dieser Nacht und am folgenden Tage, war eine merkwürdige Häufung von Glückszufällen. Später sprang noch ein junger Soldat auf. Dann hielten wir einmal, es kam einer der Chauffeure von vorn und verlangte, einer von uns möge wieder absteigen, weil der Wagen von rechts Übergewicht habe. Das war natürlich Unsinn. Wir blieben auch drauf. Der Wagen hielt vor einer kleinen Stadt, G. Es war sehr kalt Wir konnten nicht hin­ein, weil Fliegerangriff gemeldet war. Ich ging eine Stunde in der Kälte auf und ab. Der kleine Soldat war in den Straßengraben gesackt und sofort eingeschlafen. Ich breitete eine Decke über ihn. Gegen 4 Uhr fuhren wir weiter und wandten uns nach Süden. Die Sonne ging auf. Es wurde etwas wärmer. Wir gerieten in einen Schwarm Autos und kamen ins Gebirge, le plateau massif au centre d[e] l[a] Fr[ance] [Massif central].

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Der kleine Soldat verschwand plötzlich, schien sein Reiseziel erreicht zu haben. Ich saß wieder allein. Machte die Bekanntschaft der Männer im hinteren Führerhäuschen. Es waren flüchtige Elsässer aus Bar le Duc, fuhren nach la Rochelle, Richtung Bordeaux, also westlich. Die beiden Wagen waren von mehreren Familien mit Haus­halt gefüllt. Arbeiter einer replicierten Porcellanfabrik. Wir kamen in das hübsch gelegene Städtchen A, kleiner Badeort. Um den Brunnen standen elegante Herren u. rasierten sich, dito Damen, die dort Toilette machten. Ringsherum unzählige ele­gante Privatwagen auf dem Marktplatz. Ich machte mich nützlich. Da wir ins Gebirge kamen und oft steile Straßen hinunter oder herauf fuhren, glitt der zweite Wa­gen oft dicht bis an den Rand des Abhangs oder des Straßengrabens, nicht weil ich vorn drauf saß, sondern weil der Führer dieses schwere Gefährt nur sehr schwer steuern und bremsen konnte. Jedesmal, wenn es einen heftigen Ruck gab, sprang das Seil ab, mit dem die beiden Wagen an einander gekoppelt waren. Dann sprang ich ab, holte das Seil wieder hervor und half, es wieder neu zu vertauen. Es wurde warm. Oft überholten wir Truppenabteilungen oder wurden unsererseits überholt. Meine sonderbare Uniform, heller Gummimantel u. dito shawl, blaue Gamaschen und braunes béret (Baskenmütze so wie Alpenjäger) fiel oft auf und gab Anlaß zu Fragen. Meist hielt man mich für Cavalerie. Das Wetter war warm und schön, die Reise durch das Gebirge, an und für sich, herrlich. Mundvorrat hatte ich auch noch etwas: Brot u. Butter. Wir fuhren und fuhren, ohne daß sich etwas besonderes ereignet hätte. Wir näherten uns Limoges, biwakierten aber vor der Stadt. Ich lernte die "Einwohner" dieses fahrenden Hauses kennen. Ich aß den Rest meiner Vorräte. Wir waren in einem kleinen Ort. Ausser einem kleinen Stückchen Schoko u. etwas Käse gab es nichts zu kaufen. Bei strömendem Regen schlief ich gut und fest unter dem Wagen, mit dem ich gereist war. Am nächsten Morgen, meinem 46ten Geburtstag fuhren wir bei sehr schönem Wetter in Limoges ein. Ich hatte nun die Wahl, entweder weiter mitzufahren, Richtung Bordeaux, oder abzusteigen und mich erneut bei der Truppe zu melden u. zu legalisieren. Überall schwirrte es von Gerüchten. Waffenstillstand, Vordringen auf Bordeaux vom Norden her, Vorbereitung eines Fliegerangriffs usw.

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Als ich in Limoges ankam, wußte ich nicht, daß auch Eva und Musch, von Blois aus kommend u. 2 Tage u. Nächte zu Rad oder mit Camion unterwegs hier angekom­men waren. Ich ging in die Kaserne und meldete mich als Isolé (isloliert). Ich wurde mit 1000 anderen Isolierten aller Waffengattungen verpflegt. Dann war plötzlich Fliegeralerte. Statt aber in die abris [Schutzräume] wurden wir in eine riesige gedeckte Reitarena geführt, alle, auch die Offiziere und ein curé (Feldgeistlicher). Es konnte also keine böse Absicht vorliegen. Immerhin war es ungemütlich. Nur ein Ein- und Ausgang, die Fenster unerreichbar u. vergittert, viel Stroh und Heu innen, das Tref­fen einer einzigen Brandbombe hätte 1000 Leuten das Leben gekostet. Dann erschien der Kmdt. [Kommandant] der Kaserne, ließ die Offiziere und den Geistlichen hinaus, forderte die andern auf weiter nach hinten zu gehen und schien eine Ansprache vorzuhaben. Gleichzeitig erschienen bewaffnete Stahlhelmer am Eingang. Das gefiel mir nicht. Den andern offenbar auch nicht. Es entstand lautes Murren und Rumoren, und gleichzeitig drängte alles dem Ausgang zu. Der Kommandant stand dort ganz allein. Ich war sehr erinnert an die ersten Szenen im Panzerkreuzer Potemkin. Indem wurde plötzlich die Alerte wieder abgetutet, und alles beruhigte sich. Der Kmdt. kam endlich zu Worte, beklagte sich traurig über den eingerissenen Mangel an Gehorsam u. Disziplin, und man solle doch den Geistlichen fragen: das erste u. wichtigste sei doch der Gehorsam. Der Geistl. nickte verständnisvoll lächelnd. Dabei pfiff einer. Der Kdt. sagte nur traurig "maintenant il y a encore quelqu´un qui siffle". Also er wollte nur sagen, daß wir uns eine Stunde gedulden sollten, wir würden sofort weiter transportiert werden, er wolle nur die Chauffeure heraussuchen. Unerwarteterweise stimmte alles und eine Stunde später wurden wir mit 100 Rote Kreuz Autos, ganz neu und comfortabel eingerichtet mit Lederpolsterbänken,

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immer 10 Mann in einem Auto, in rasender Eile nach Süden befördert. Ein kl. jüd. polnischer Legionär hatte sich mir angeschlossen. Wir kamen über Perigueux, wo wir wegen Überfüllung nicht herein konnten, wir schwenkten links südlich ins Ge­birge ab. Es verdichteten sich die Gerüchte, daß der abgeschlossene Waffenstillstand zustande gekommen, aber von [der] Zustimmung Roms abhängig gemacht worden sei. Nachmittags hielten wir, die ganze riesige 100 Wagen Kolonne auf einem Hoch­plateau, im sogenannten Lussac. Wir lagen auf der Wiese in warmer Sonne, wuschen unsere Wäsche in einem Bach. Plötzlich das bekannte Brummen, 2 feindliche Flieger tauchen auf. Überfliegen alles, verschwinden wieder, kehren 10 Minuten später zu zehnt zurück. Alles schnellstens unter Bäume, Sträucher, ins Dickicht. Sie fliegen drüber weg, machen eine elegante Schleife, fliegen nochmals drüber weg und verschwinden wieder. Jetzt weiß ich nicht, ob uns das R. Kr. ausnahmsweise geschützt hat, das natürlich auf den Autodächern zu sehen war oder ob in diesem Augenblick der Waffenstillstand endgültig abgeschlossen war. Wir blieben über Nacht in einigen großen Gehöften, die dort lagen. Da mein Verdauungssystem überhaupt versagte, nahm ich alle noch vorhandenen Abführmittel, aß unreifes Obst, eine große Zwiebel und welches Labsal! seit Wochen das erste grüne Gemüse lauter Salat! Am nächsten Morgen hatte ich zwar Erleichterung, aber mir war doch recht elend. Ich hatte große Leibschmerzen, mußte auf der breiten Holzgalerie des Bauernhauses, in der ich geschlafen hatte, liegen bleiben. Die Frauen zerrissen sich. Dort waren nämlich auch etliche Flüchtlingsfamilien aus dem Elsaß untergebracht, die längst vor uns gekommen waren. Jetzt hatten sie also doch wenigstens einen richtigen Kranken, der mit dem ruhmreichen Transport angekommen war. Eine brachte mir Café, eine Thee, eine Cognak, eine Brühe, eine Kartoffelpuree. Ich kam aber doch wieder zu mir und mußte sie infolgedessen enttäuschen. Ich erhielt mit

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dem kleinen Legionär zusammen die Erlaubnis, daß wir weiter südlich gehen dürften, soweit wir kämen. Gerührt ließ ich den mitleidigen Frauen meinen Sack mit dem, was ich nicht unmittelbar noch brauchte, als Decken, Wäsche, Kochgeschirr, Bücher etc. und ging mit dem Kleinen los. Wir hatten das Glück einen Proviantwa­gen zu erwischen, der uns bis an die nächste Bahnstation brachte. 3 Stunden später kam ein Güterzug durch. Wir installierten uns, so gut es ging und fuhren dann, (und das wird Abbi ja bedauern, daß er da nicht dabei war, und ich bedaure es auch) den ganzen Abend im Bremserhäuschen durch hohes, verlassenes Gebirgsland. Das Massif Central ist viel ausgedehnter, als ich vorher annahm. Hohe Viadukte, Tunnels, Abhänge, Brücken usw. Wir sahen aber immer nur mit einem Auge in die Landschaft und mit dem anderen ängstlich nach Fliegern aus. Denn wir hatten Angst, daß die plombierten Wagen Munition enthielten. Mit einem Munitionszug von einem Viadukt herunterzuknallen, da bleibt nicht viel übrig. Die Nacht kam, wir waren sehr durchgerüttelt. Wir siedelten in einen offenen Güterwagen um, in dem viel Stroh, auch andere Soldaten und Flüchtlinge lagen. Wir schliefen. Wir wachten auf. Der Zug ging nicht weiter. Es war egyptische Finsternis. Wir standen in einem riesigen Rangierbahnhof. In der Dunkelheit über Schienen, durch rangierende Züge hindurch, über Drähte stolpernd kamen wir endlich auf einen beleuchteten Bahnsteig. Es war der Knotenpunkt Agen. Dort stand ein endloser überfüllter DZug nach Toulouse. Wir erstiegen ein Coupé II. Kl., hatten auf dem Boden noch Platz, waren endgültig in Sicherheit. Am nächsten Morgen kamen wir in Toulouse an. Aber hier sah man erst, was los war. Das war das südliche Centrum des ganzen Flüchtlingsansturms. Der ganze Bahnhof, der Vorplatz, die Straßen ein einziges Lager, Wagen, Betten, Decken, Autos, Menschen aller Rassen, Alter, Uniformen, unbeschreiblich. Der ganze Bahn­hof übersät mit Zettelchen von Leuten die [unleserlich]

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sie sich hingewandt hatten, wen sie verloren hatten, wen sie suchten. Jeder suchte jeden. Herzzerreißende kleine Zettel, jeder eine Katastrophe. Ich ging zum Kultusgebäude der jüd. Gde. Geschlossen. Davor stand eine feine alte Dame. Sie sprach mich an. Sie suche ihre beiden Söhne, Zwillinge, ob ich ihr nichts sagen könne. Wie sie denn hießen? Sie nannte einen mir geläufigen Namen: meinen Namen. Sie war die Frau eines Vetters meines Vaters aus Wien, den ich mit 10 Jahren einmal ken­nengelernt hatte. Das waren schwer reiche Kaufleute in Wien. Ich ging mit ihr ins Hôtel, begrüßte nach dreißig Jahren wieder einmal meinen Großvetter, der einen etwas reducierten Eindruck machte, aber doch immer noch im besten Hotel der Stadt wohnen konnte. In großzügiger Weise lud er mich zu einer Tasse Café ein (ohne Zucker und Milch) u. offerierte mir 10, fcs (französische). In leutseliger Weise erinnerte er sich, daß ihm und seinem Vater bei ihrem Besuche in Berlin 1910 von meinen Eltern eine Gans nach Prager Art offeriert worden sei, daß dies Experiment aber vorbei gelungen sei, indem daß man in Prag die Gänse gänzlich anders zube­reite. Am nächsten Tage war ich dann noch einmal mit seiner Frau vor dem Kultusgebäude verabredet. Der Rabbiner war aber für Emigranten ein für alle mal nicht zu sprechen. Statt dessen trafen wir vor dem Haus einen jungen Wiener Anwalt, den ich am Tage unserer Internierung in Paris-Colombes am 3/9 [1939] ganz flüchtig ken­nen gelernt hatte. Er war verlobt mit einer Dame aus Wien, Tochter eines Anwaltes, und auch sie und ihr Vater tragen meinen Namen, sind entfernte Verwandte, ich kenne sie aber nicht. Er suchte verzweifelt nach seiner Braut, die in den schwierigsten Tagen aus Orléans geflüchtet sein dürfte. Er war mit den Prestatären, die zu den Engländern abkommandiert in einem Convoi von 15 riesigen Camions und etwa 900 Mann in einem Dörfchen bei Toulouse angekommen, wo sie biwakierten, aber jeden Augenblick weiter fahren konnten. Er fragte mich, ob ich mitkommen und mich ihm anschließen wolle. Ich war sehr froh, denn es war fast die einzige Möglichkeit, von hier aus nach Süden weiter zu kommen.

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Ich hielt mich noch bis abends in Toulouse auf. Von 10 Leuten, die man nach dem Wege fragte, waren 9 gerade angekommen und wollten selbst den Weg wissen. Ich wußte nicht, daß um 7 Uhr bereits die letzte Elektrische nach diesem Örtchen, 6 km entfernt, hinausging. Um 8 Uhr endlich fand ich noch eine Bahn in der ungefähren Himmelsrichtung. Ich fuhr auf alle Fälle los. Unterwegs ein Toulouser Bauer, den ich nach dem Wege fragte. Er verstand kein Wort. Ich ihn auch nicht. Er machte Gesten, lachte, schwatzte, endlich wurde mir klar, daß er sich über den dicken Hintern der Schaffnerin amüsierte und mich an dieser reinen Freude teilhaben lassen wollte. Wenn ein Mensch aus Paris mit einem Toulouser Bauern spricht, ist es ebenso, wie wenn wir als Berliner mit dem Mecklenburger Bauern sprechen: "Ick bin en tofräden Minsch".
Ich stieg aus, erfuhr die Himmelsrichtung, sah die Straße. Ich mußte irgendwo einen Fluß überqueren. Ein Gewitter ging über mich herunter. Es wurde Nacht, ich war schwer bepackt. Ich wanderte in mir völlig unbekannter Gegend. Hatte kein Geld mehr. Hatte unser gemeinsames Legitimationsapier dem Polen beim Abschied überlassen. Der war sicher schon fort. Wenn ich jetzt in der Dunkelheit die Kolonne nicht mehr fand... Aber ich fand sie. Im Dusel. Sie war noch da. Am nächsten Morgen 6 Uhr erst fuhr sie ab. Mit vieler Mühe erhielt ich ein Plätzchen auf einem der mit je 50 Leuten u. riesigem Gepäck beladenen Wagen. Wagen, Proviant, Uniformen, fabelhafte Ausstattung, alles hatten sie von den Engländern teils erhalten, teils requi­riert, als diese, Hals über Kopf, sich an die Küste begaben. Sie wurden nicht müde, die Verpflegung, den Comfort, die Sauberkeit u. die Behandlung zu loben, auch ich muß sagen, nach dem, was ich selbst durchgemacht hatte, war mir das begreiflich! Ich habe Dir ja andeutungsweise geschrieben.

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Ich war nur glücklich, daß ich diesem Sklavenlager lebendig entkommen war. Was muß Cayenne oder Fr.-Congo darstellen! Wir fuhren noch einen Tag, kamen in die Ausläufer der Pyrenäen. Dann biwakierten wir. Nach 2 Tagen erhielten wir Entlas­sungsscheine. Ich fuhr mit Autostop mit dem Wiener Anwalt nach Gurs, dem berüchtigten Frauenlager, wo alle deutschen Frauen, auch die von Prestatären, freiwil­ligen Legionären usw. (!) eingesperrt worden waren. Er suchte dort nach seiner Braut, ich meinte, daß ich vielleicht Eva u. Musch finden könne. Ich traf viele Bekannte. Eva war nicht dort. Ich erfuhr, daß sie in Limoges sei. Seine Braut war auch nicht da. Da waren aber Leute, die ihre Frau suchten, die schon 3,4 Tage dort waren, denen man immer wieder sagte, sie sei nicht da, und die sie dann doch fanden! Aber er fand seine Braut nicht. 5000 Frauen waren noch da. Wir waren 3 Tage lang dort. Während wir dort waren, erschienen die Feinde [...] mitten im unbesetzten Gebiet. Als ich eines Abends, auf der Dorfstraße von Gurs stehend, die beiden deutschen Offiziere im Auto vorbeifahren sah, hatte ich ein unangenehmes Gefühl. Sie kamen dann am nächsten Tag mit 40 Autobussen u. holten die deutschen Frauen, die nach Deutschland zurückwollten. Da waren Elsäßerinnen, die weinten, als sie hörten, daß sie gar nicht ins Elsaß, sondern in ein Umschulungslager kämen, da waren Jüdinnen, die von Gurs so genug hatten, daß sie nach Deutschland zurückwollten, die aber zurückgewiesen wurden, da waren Frauen, die hysterisch "Heil Hitler" brüllten und solche, die ebenso hysterisch mit "Nieder" antworteten, dann soll es eine peinliche Szene gegeben haben, indem ein deutscher Offizier dem fr. Kdt. erklärte, sie hätten in Dachau sogar "ihre Juden" nicht so untergebracht, wie die Fr. die deutschen Frauen. Sie sollen am nächsten Tage einen Transport von deutschen und jüdischen Emigranten aus dem Internierungslager Dax bei Bordeaux nach Gurs in unbesetztes Gebiet überführt haben. Ich fuhr am nächsten Tage mit dem Wiener - trostlos war er - wieder ab und mit Autostop bis Limoges, wo ich Eva u. Musch tatsächlich antraf. Das war die Geschichte der denkwürdigen Flucht.