Adolf Moritz Steinschneider (1894 – 1944)
Rechtsanwalt, Politiker, Emigrant, Opfer des NS-Terrors
Bis zu seiner Flucht aus Deutschland im Februar 1933 war der Rechtsanwalt
und Strafverteidiger Adolf Moritz Steinschneider eine im öffentlichen
Leben der Stadt Frankfurt am Main bekannte Persönlichkeit. Über
seine Rolle in den sozialen und politischen Kämpfen der Weimarer
Republik gibt ein im Schweizer Exil geschriebener Brief vom 2. Januar
1935 an den Kollegen Dr. Bloch besonders eindrücklich Auskunft:
„Ich war Rechtsanwalt in Frankfurt a. M. mit ausgesprochen
politischer Strafpraxis, aber auch sonstiger ziemlich ausgedehnter Strafpraxis.
Als Jude und politisch links eingestellt, wenn auch nirgends politisch
organisiert, war ich - wie das ja bekannt ist - bei der Machtergreifung
durch Hitler der Verfolgung seiner Banden und Freischärler stärker
ausgesetzt als mancher ausgesprochene Politiker oder politische Funktionär.
Dies um so mehr, als ich in zahlreichen Prozessen heftige Zusammenstöße
mit jetzigen hohen Würdenträgern des Reiches hatte, wie etwa
dem jetzigen Oberbürgermeister von Frankfurt, früheren Landgerichtsrat
Krebs, dem Reichsstatthalter in Hessen, dem früheren Justizsekretär
Sprenger, dem Reichsbeauftragten für Österreich Haidt, früheren
Winkelblättchenberichterstatter in Wiesbaden, dem Personaldezernenten
im Justizministerium Freisler, früherem Rechtsanwalt in Cassel usw.
usw. Ich hatte das Glück, durch mir wohlgesinnte Polizeibeamte der
Kriminalpolizei, die der SPD angehörten, noch rechtzeitig gewarnt
zu werden und konnte, wenn auch völlig ohne Mittel, ohne Pass und
zunächst auch ohne Subsidien aus Deutschland flüchten...“
Die Rekonstruktion der in diesem Brief genannten Prozesse bildet einen
Schwerpunkt der Erforschung des Lebens und der Leistungen dieses politisch
engagierten Juristen; die Aufgabe besteht hierbei darin, ein bislang ungeschriebenes
Kapitel der hessischen Justizgeschichte aus der Endphase der Weimarer
Republik, in der Steinschneider mit so prominenten Nationalsozialisten
wie Jakob Sprenger, Roland Freisler oder Friedrich Krebs als Gegnern zu
tun hatte. Gleichzeitig sollen auch die politischen Ereignisse und Kämpfe
in Frankfurt a.M. im Vorfeld des Jahres 1933 dargestellt und neu beleuchtet
werden.
Zu Steinschneiders Lebensweg in der Emigration, von 1933 bis zu seiner
Ermordung im Sommer 1944, steht der Forschung sein von der Tochter Marie-Louise
Steinschneider geretteter, bislang noch kaum erschlossener Nachlass zur
Verfügung. Die Erschließung und Auswertung dieses ungewöhnlich
dichten und beziehungsreichen Nachlasses bietet die Chance, Steinschneider
in seinen Briefen, Aufzeichnungen, Entwürfen und Essays als einen
bedeutenden Erzähler des Exils zu entdecken.
Geboren 1894 in Berlin als ältester Sohn einer liberalen jüdischen
Familie (der Großvater ist der berühmte Judaist Moritz Steinschneider)
kommt Steinschneider nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erstmals aktiv
mit der Politik in Berührung. Seine Teilnahme am Spartakusaufstand
in Berlin bringt ihn für zehn Monate ins Gefängnis. In der Folgezeit
hat die Arbeit des Juristen immer einen politischen Hintergrund. Im privaten
Bereich beginnt in den zwanziger Jahren angesichts fragwürdig gewordener
Familienstrukturen für Steinschneider die intensive Suche nach neuen
Lebensformen. Seine weitläufige Kanzlei am Frankfurter Untermainkai
entwickelt sich zu einer Wohngemeinschaft, in der bekannte Sozialisten
wie der Freund Rosa Luxemburgs, Paul Frölich, und Josef Lang (genannt
Jola) wohnten. Auf der Tagesordnung dieses sozialen Experimentierfelds
stehen die Suche nach einem undogmatischen Sozialismus, Themen wie die
sexuelle Befreiung, das Verhältnis der Geschlechter oder die Kritik
an totalitären Tendenzen linker und rechter Prägung. Außenseiter,
darunter der Psychohistoriker Adrien Turel spielen in diesem Umfeld ebenso
eine Rolle wie der Sozialtheoretiker Karl Korsch oder der junge Kommunist
Wolfgang Abendroth. Steinschneider hält zudem über Jahre engen
Kontakt zu der Arbeitsgemeinschaft für biogenetische Psychologie,
einem Kreis um den Berliner Psychologen Arthur Schinnagel. Hinsichtlich
Steinschneiders anwaltlicher Praxis können wir uns aufgrund einer
zeitgenössischen Dokumentation[i] bereits heute zumindest von einem
großen Prozess, dem spektakulären Verfahren gegen den Frankfurter
Familienmörder Friedrich Wiechmann, in dem Steinschneider die Verteidigung
führte, ein relativ gutes Bild machen. Im Archiv der Stadt Frankfurt
befinden sich zudem zahlreiche weitere Dokumente zu diesem Prozess.
Nach Steinschneiders gerade noch rechzeitiger Flucht in die Schweiz am
28. Februar 1933 wurden seine Anwaltspraxis und Wohnung in Frankfurt von
SA-Truppen verwüstet. In der Schweiz verliert er wegen seines politischen
Engagements im Juni1935 das Asylrecht und lebt fortan in Frankreich. Die
materielle Lage blieb für Steinschneider im Exil immer extrem bedrückend,
da er weder in der Schweiz noch in Frankreich seinen Anwaltsberuf ausüben
konnte und die Versuche, als Geschäftsmann oder Handwerker Fuß
zu fassen, sämtlich scheiterten. Trotz permanenter Not setzt Steinschneider
auf einen Neuanfang im Denken und Schreiben: es entstehen zahlreiche Essays
und Aufzeichnungen zur politischen Lage, zum Antisemitismus, zu den totalitären
Aspekten von Faschismus und Sozialismus, zur Psychologie und Soziologie
der Geschlechter sowie eine Reihe literarischer Texte. Bis zu seiner Ermordung
arbeitet Steinschneider an seinem opus magnum Menschheit und Polarität,
einer sozialanthropologisch grundierten Reflexion zur Genesis und Überwindung
des faschistischen, totalitären Gewaltmenschen. Die demokratischen,
sozialistischen, marxistischen, pazifistischen Ideologien, lautet
die Ausgangsthese des Werks, erweisen sich als zu schwach, zu ideenarm,
um dem ersteren pari bieten zu können. Und in einem Brief an
den Bruder Gustav vom 4. Dezember 1937 definiert er im Rahmen seiner Kritik
am Marxismus einen zentralen Aspekt der Studie: dass nämlich
der Staat nicht, wie auch Engels meinte, einfach das Verhältnis zweier
Klassen, einer herrschenden und der beherrschten darstelle, sondern
zugleich ein Verhältnis (und zwar ein veränderliches) der Geschlechter,
und wahrscheinlich auch der Generationen zueinander. Heute wird
man Steinschneiders Erfahrungen und Reflexionen z.B. im wissenschaftlichen
Kontext von gender investigation leicht wieder begegnen. Der Ertrag seiner
Schrift sollte Steinschneider zufolge dem Ziel dienen:
nach Beendigung des Krieges eine Gesellschaftsordnung
zu inspirieren und zu konstruieren (zu beseelen und aufzubauen), die der
Kriegsmüdigkeit, Friedenssehnsucht, dem Gerechtigkeits-, Glaubens-
und Ruhebedürfnis der Völker und Massen gerecht wird, ihren
Lebensimpuls beschleunigt und ihre Lebensfreude steigert.
Neben diesen Bausteinen zu Steinschneiders intellektueller Physiognomie
bildet sein einzigartiges Briefwerk den anderen, wohl zentralen und historisch
aufschlussreichsten Teil seines Nachlasses. An erster Stelle stehen hierbei
die bewusst als Exilchronik und Ideentagebuch angelegten Briefe an den
1933 nach Palästina emigrierten Bruder Gustav Steinschneider, sodann
die auch künstlerisch besonders liebevoll gestalteten Briefe an die
Kinder Marie-Louise und Stefan (der Sohn Stefan lebt seit 1933 in der
Schweiz; erst im April 1938 emigriert Steinschneiders Lebensgefährtin
Eva Reichwein mit der gemeinsamen Tochter Marie-Louise von Frankfurt nach
Paris).
...Mein Leben war mir immer eine Versuchswerkstatt, besonders wichtige
Widersprüche einzufangen.[ii] Wenn Steinschneider in einem
Brief an den Bruder mit diesem Bilde den Kraftkern seiner Beobachtungen,
Reflexionsprozesse und Überlebensstrategien beschreibt, dann mag
man nicht fehl gehen, als das eigentliche Motiv seiner Briefe die Treue
anzusprechen. Denn die Kette des Lebens darf nicht abgewürgt oder
durchschnitten werden, auch wenn alles konträr und hoffnungslos zu
stehen scheint. Bis hinein in die Wiederaufnahme frühester Traumerfahrungen
entsteht - ähnlich wie bei der Weberei, wenn das Schiffchen
hin und her fährt und den Faden hinauf, hinunter und hindurch schlägt
- nach und nach jener autobiographische Text, den Steinschneider das
kleine Gebilde meines Lebens in der Nacht des großen
Weltgeschehens nennt. Aus der VersuchswerkstattIII dieses
Lebens erreichen Andere immerzu Nachrichten, Beobachtungen, Mut, Zuspruch,
Humor, Ideen, Erinnerungen und Träume, gleich ob ihr Besitzer sich
in einem der vielen flüchtig bewohnten Hotelzimmer, in den Straßen
von Paris oder in einem Internierungslager befindet.
Die umfangreichen Korrespondenzen mit Politikern, Historikern und Schriftstellern
spiegeln zudem Steinschneiders Rolle bei den Standortbestimmungen und
Diskussion innerhalb der Emigration in Zürich und Paris wieder. Zusammen
mit dem Schriftsteller Anselm Ruest rief Steinschneider 1937 die noch
kaum erforschte Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft und Kunst im
Ausland (Entr aide des savants et gens de Lettres Allemands réfugiés)
ins Leben. Für die Erforschung dieser und anderer Aspekte bildet
Steinschneiders Nachlass eine Quelle, deren wissenschaftliche Erschließung
nicht allein für seine Biographie, sondern auch für andere Kontexte
der Exilforschung von Bedeutung ist.
Die Kriegserklärung an Deutschland im September 1939 bedeutet wie
für die meisten Emigranten in Frankreich so auch für Steinschneider
die Internierung als ausländischer Staatsbürger in Sammel- und
Arbeitslagern. Nach der Niederwerfung des Landes durch die deutschen Truppen
gelingt Steinschneider im Juni 1940 auf abenteuerlichen Wegen die Flucht
in den Süden Frankreichs. Unter dem Vichy-Regime muss er dann wiederum
an verschiedenen Orten Zwangsarbeit leisten, bis man ihn im Sommer 1942
krankheitshalber entlässt und er zu seiner Lebensgefährtin und
Tochter in das Städtchen Bellac bei Limoges ziehen kann. Nach zwei
relativ ruhigen Jahren wird Adolf M. Steinschneider beim dem Versuch,
sich vor heranziehenden SS-Truppen zu verstecken am 11. Juni 1944 in der
Nähe von Bellac abgefangen und erschlagen.
[i] Bruno Fürst, Magnus Hirschfeld, Walther Riese u. Adolf Moritz
Steinschneider: Der Fall Wiechmann. Zur Psychologie und Soziologie des
Familienmordes. Stuttgart (Püttmann) 1928. (=Schriften zur Psychologie
und Soziologie von Sexualität und Verbrechen hg. von Hertha u. Walther
Riese Bd. I) - Der Band enthält Steinschneiders Schlussplädoyer
im Prozess gegen Wiechmann.
[ii] Brief an Gustav Steinschneider vom 1.12.1937
III Brief an Gustav Steinschneider vom 10.1.1935
Literaturbericht
1. Texte von A. M. Steinschneider
Steinschneiders Plädoyer im Fall Wiechmann ist in der
nachfolgend genannten Publikation erhalten:
Bruno Fürst, Magnus Hirschfeld, Walther Riese u. Adolf Moritz Steinschneider:
Der Fall Wiechmann. Zur Psychologie und Soziologie des Familienmordes.
Stuttgart (Püttmann) 1928. (=Schriften zur Psychologie und Soziologie
von Sexualität und Verbrechen hg. von Hertha u. Walther Riese Bd.
I)
Eine statistische Arbeit Steinschneiders mit dem Titel Strukturelle Veränderungen
in der jüdischen Bevölkerung Deutschlands seit April 1933 erschien
1937 anonym in der vom Jüdischen Weltkongress publiziertend Broschüre:
Der wirtschaftliche Vernichtungskampf gegen die Juden im Dritten Reich.
Dargestellt von der ökonomischen Abteilung des Jüdischen Weltkongresses.
Paris Genéve New York 1937
2. Sekundärliteratur
Bislang sind noch keine einschlägigen wissenschaftlichen Arbeiten
zu Steinschneider zu verzeichnen. 1988 hat zuerst Dr. Eckart Grünewald
auf den Nachlass Steinschneiders hingewiesen:
Eckart Grünewald: Auswertung eines einzigartigen Briefnachlasses
- Adolf Moritz Steinschneider. In: Exil. Forschung, Erkenntnisse, Ergebnisse.
VIII. Jg. (1988), Heft 2
Steinschneiders Kooperation mit der Roten Hilfe behandelt das biographische
Sammelwerk:
Erika u. Josef Schwarz, Heinz-Jürgen Schneider: Die Rechtsanwälte
der Roten Hilfe. Deutschlands politische Strafverteidiger in der Weimarer
Republik. Bonn (Pahl-Rugenstein) 2002
Bekannt wurden uns bislang zwei Memoirenwerke, in denen Steinschneider
Erwähnung findet:
Wolfgang Abendroth: Ein Leben in der Arbeiterbewegung. Gespräche,
aufgezeichnet und herausgegeben von B. Dietrich und J. Perls. Frankfurt
a. M. (Suhrkamp) 1976 (zu Steinschneider S. 92 u. 101)
Adrien Turel: Bilanz eines erfolglosen Lebens. Autobiographie. Zürich-Hamburg
(Edition Nautilus) 1989. (zu Steinschneider S. 56ff, 217ff u. 245ff)
Die Erfahrungen von Steinschneiders Vater Max Steinschneider mit dem
Antisemiten und Mentor Hitlers Dietrich Eckart behandelt der Bericht:
Friedrich Paul Heller: Judenfeinde im Suff. In: Blick nach rechts, 15.
Juli 1999
Der Hessische Rundfunk sendete im Jahre 2000 ein von Ute Steinbicker
und Hans Schmitt verfasstes Radiofeature über A.M. Steinschneider.
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